Die Geschichte
des Hauses

Zwei Frauen, eine Geschichte

Artikelquelle | Autorin: Geneviève Wood

Erscheinungsdatum des Artikels: 30.4.2004

Die Geschichte des Hauses mit den grünen Fensterläden und dem Fachwerk am Elbstrand in Övelgönne.

Wie häufig sie schon aus dem Fenster geblickt hat? Auf die Elbe und die Schiffe? Gisela Röttger weiß es nicht. Zu oft schon saß sie in der großen Wohnstube der Villa vor dem Panorama-Fenster und schaute hinaus auf den Strom. „Heute ist die Elbe mächtig in Bewegung“, sagt sie nur.

Gisela Röttger ist in diesem Haus am Uferweg Övelgönne 106 geboren. Sie wohnt hier längst nicht mehr. 76 Jahre später aber sitzt sie wieder bei Kaffee und Kuchen in ihrem Elternhaus, zu Besuch bei der jetzigen Hausbesitzerin Helga Cohen-Cossen. Zwei Frauen, eine Geschichte – die Geschichte des Hauses mit den grünen Fensterläden und dem Fachwerk am Elbstrand in Övelgönne.


Oben im ersten Stock. Dort, wo Student Boris jetzt sein WG-Zimmer hat, ist Frau Röttger, geborene Schnackenberg, auf die Welt gekommen. In dem Haus, das 1901 erbaut wurde und das dem bekannten Hamburger Kaufmann Edmund Siemers (1840- 1918) gehörte. „Bis 1926 soll dessen Tochter Thekla Schaer dort gelebt haben“, sagt Frau Cohen-Cossen (60). Dann zogen die Schnackenbergs ein. Die kleine Gisela verbrachte hier ihre Kindheit, lebte mit ihren Eltern und den beiden älteren Brüdern in der 320 Quadratmeter großen Villa. Ein unbeschwertes Leben.


„Wir machten viele Dummheiten“, sagt Frau Röttger, „Klingelstreiche zum Beispiel. Oder wir ärgerten den Schuster.“ Es war ein gastfreundliches Haus. „Wir hatten eigentlich immer Besuch. Im Sommer saßen die Familie und Freunde vorne im Garten“, erzählt Frau Röttger. Sie lächelt. Es sind schöne Erinnerungen. „Ich denke aber auch mit viel Wehmut an diese Zeit“, sagt sie.


Wehmut, weil diese schöne Zeit abrupt beendet wurde. Die Nazis kamen. Hitler wollte den Bau der größten Brücke der Welt in Hamburg beginnen lassen. Das Tor zur Welt. An 180 Meter hohen Pfeilern sollte die 47 Meter breite Brücke die Elbe überspannen. Zum zehnten Jubiläum der Machtergreifung 1943 sollte das Bauwerk fertig sein. Das Haus der Familie Schnackenberg jedoch stand dem Vorhaben im Weg. Hitler ließ sie enteignen. In einem Schreiben vom 18.10.1938 steht: „Ich teile Ihnen mit, dass die Häuser 101 bis 109 auf den Grundstücken abgerissen werden müssen.“ Eine kalte Sprache, herzloses Beamtendeutsch. „Innerhalb von vier Wochen mussten wir das Haus räumen. Das war sehr schmerzhaft“, sagt Frau Röttger. „Obwohl ich nur die ersten zehn Jahre meines Lebens hier verbrachte, kommt es mir vor, als seien es 30 Jahre gewesen.“ Alle waren traurig damals. Ihr Vater Rudolph schrieb einen Abschiedsbrief an Freunde und Familie. Das war 1938. 64 Jahre später hält Gisela Röttger diesen Brief in ihren Händen, liest ihn vor – in dem Zimmer, in dem ihr Vater ihn geschrieben hatte. Ein Brief in altdeutscher Schrift, der das Wesen des Hauses wiedergibt: „Die raue Wirklichkeit reißt uns aus diesem Idyll. Hier konnte sich das Herz erfreuen und sich ausruhen. Hier war man geborgen und schöpfte neue Kraft.“ Die Schnackenbergs mussten raus, zogen nach Blankenese. Die Brücke wurde nie gebaut.


Das Haus blieb stehen. Während der Enteignung waren Arbeiter der Howaldtswerft in der dreigeschossigen Villa untergebracht. „Im Garten waren Baracken aufgebaut, im Haus war die Kantine“, sagt Helga Cohen-Cossen. Ihr Vater Harry Vagt und ihr Ehemann Jürgen hatten die Villa 1964 vom Bundesvermögensamt gekauft. „Wir hatten vorher in einem Haus am Schulberg gleich in der Nähe gewohnt“, erzählt Frau Cohen-Cossen. Weil ihr Mann Arbeit als Seelotse auf dem Nord-Ostseekanal fand, zogen die Cohen-Cossens 1971 mit ihren Töchtern Corinna und Christina, heute 38 und 34 Jahre alt, nach Dithmarschen in Schleswig-Holstein. Und irgendwann in dem 500-Seelen-Dorf Kuden in Dithmarschen lernte die Familie zufällig Gisela Röttger kennen: Sie hatten bei ihr zur Miete gewohnt. So klein ist die Welt manchmal. Erst 1993 zogen die Cohen-Cossens wieder nach Hamburg. Die Elb-Villa wurde ihr Zuhause.

Und genau wie damals, als die Schnackenbergs hier lebten und ständig Verwandtenbesuch hatten, ist das Haus mit den teilweise vertäfelten Wänden im Wohnzimmer und dem 1800 Quadratmeter großen Garten auch heute noch ein offenes, ein gastfreundliches. Ein Haus, in dem sich der Besucher willkommen fühlt. Ein Zuhause – nicht nur für Helga Cohen-Cossen, die hier ihre Mutter Lotte (90) pflegt, sowie für Tochter Christina: In der ersten Etage haben sich drei Studenten eine Wohngemeinschaft eingerichtet. Die WG-Zimmer sind begehrt. „Die meisten kommen über Beziehungen und auf Empfehlung hierher“, sagt Frau Cohen-Cossen. Oder ganz zufällig.

 

So wie Sven Bluhm (39), freischaffender Künstler. „Ich war mit einem Freund an der Elbe joggen, als wir vor dem Haus eine Dehnungsübung machten. Hier wollte ich unbedingt wohnen“, sagt er. Tage später sah er einen Zettel am Schwarzen Brett im Studentenwohnheim: Frau Cohen-Cossen suchte einen neuen Mitbewohner. Sie genießt es, vor allem nach dem Tod ihres Mannes vor zweieinhalb Jahren, Menschen um sich zu haben.

 

„Ich habe Freude an diesem Kommen und Gehen“, sagt Frau Cohen-Cossen. „Allein möchte ich hier nicht wohnen. Das Haus ist doch viel zu groß.“ Die jungen Leute, sagt sie, sind erfrischend. „Es ist wichtig, dass Leben im Haus ist.“ Distanz muss trotzdem sein. „Natürlich laden sie mich zu ihren Geburtstagen ein. Aber sie wissen, dass ich dann auch bald wieder gehe“, sagt sie. Und lacht.

Der Elbblick. Welche Studenten-WG kann schon in der gemeinsamen Küche beim Frühstücken die großen Pötte angucken?

 

 

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